Die Literaturverweise finden sich nicht im Blog sondern im Buch.

Muskelstimulation mit mittelfrequenten Wechselströmen

Neben den niederfrequenten, TENS-ähnlichen Impulsströmen werden zur Stimulation innervierter Muskeln mittelfrequente Wechselströme, auch Kilohertz-Ströme genannt, eingesetzt. Der Einsatz dieser Stromform wurde sehr populär nachdem in den 1970'er von den angeblich großen Erfolgen der sog. Russian Stimulation berichtet wurde. Die Methode sei nicht nur besonders effektiv sondern sei auch angenehmer als eine NF-Stimulation (Andrianowa et al 1974).

Die verwendeten Impulse eines MF Stromes sind sehr kurz (125 µs bei 4000 Hz, 200 µs bei 2500 Hz), so dass nur ein intakter Nerv-Muskelkomplex darauf reagieren kann. Die Reizung findet am Nerv statt (indirekt) der die Aktionspotentiale zum Muskel weiterleitet. Bei einer peripheren Nervenläsion sind diese Ströme wirkungslos, hier benötigt man längere Dreieckimpulse, die Reizung findet dann am Muskel statt (direkt). Zur Bestätigung von Behauptungen, dass MF Ströme direkt am Muskel etwas bewirken gibt es keine Belege.

BMAC, Russian Stimulation

Zur Beschreibung dieser Kilohertz Strömen werden verschiedene Bezeichnungen verwendet. Am bekanntesten sind die tetrapolare exogene Interferenz nach Nemec und die bipolare endogene Interferenz, auch prämodulierte Interferenz genannt. Die klassische tetrapolare Version sollte zur Kräftigung wirklich nicht mehr verwendet werden, da es vollkommen unmöglich ist damit eine gezielte Stimulation zu bewirken. Die Gründe dafür sind im Kapitel über Interferenzstrom im Buch nachzulesen.

Die prämodulierte IF ist zur Kraftentwicklung nicht effektiv, da ein Teil der Impulse im sinusförmigen Burst unterschwellig bleibt und wirkungslos ist (Variante D in der Abbildung). Bei der Russian Stimulation (RS) hingegen wird ein kontinuierlicher sinusoidalen 2500 Hz Wechselstrom in 10 ms Bursts zerlegt, die Frequenz womit diese Bursts abgegeben werden kann man am Gerät einstellen.
Sämtliche Pulse im Burst haben die gleiche Intensität (= Amplitude), deshalb ist diese Methode deutlich effektiver als die vorher erwähnten zwei (C in der Abbildung). Es handelt es sich hier um einen Frequenzmodulierten mittelfrequenten Wechselstrom, die am verbreitesten Bezeichnung lautet Burst Mode Alternating Current, BMAC (Ward et al 2004, Ward 2009, Ward et al 2009).

BMAC
Russian Stimulation oder BMAC = linksunten (C). Rechtsunten (D) prämodulierter MF Strom. Aus Ward 2009, mit freundlicher Genehmigung

Die Russian Stimulation wurde in den 1970'ern populär aufgrund der angeblich sehr guten Resultaten von Dr. Yakov Koz (auch Kotz oder Kots geschrieben), damals Professor für Körperkultur an der Staatsakademie von Moskau. Dr. Koz verabreichte seinen Sportlern und Kosmonauten als Zugabe zum normalen Training Elektrostimulationen und behauptete mit seiner Methode Kraftzunahmen von rund 40% in drei Wochen zu erreichen. Diese Behauptungen konnten während eines Austauschprogrammes in Canada 1977 nicht bestätigt werden (Ward und Shkuratova 2002). Man behauptet sogar, dass die für die Versuche ausgewählten Kanadische Elite-Gewichtheber sich kategorisch weigerten diese Tortur mit zu machen.

Seine Begründung für die Kombination eines aktiven Trainings mit EMS war wie folgt. Damals wurde beim Training hauptsächlich auf Umfang und Kraft trainiert. Bezüglich des Muskelfasertypes bezog sich dieses Training also hauptsächlich auf die slow-twitch-Motorunits, Units, die langsam ermüden und über Aα2-Neurone innerviert werden. Es war bereits bekannt, dass die Elektrostimulation vor Allem die fast-twitch Motoreinheiten stimuliert, also die Units, die bei der Kontrolle von raschen, präzisen Bewegungen eingesetzt werden und über Aα1-Motoneuronen innerviert werden. Mit der Kombination beider Methoden konnte man also beide Motorunit-Typen aktivieren.

Koz benützte ursprünglich einen niederfrequenten 50 Hz-Rechteckimpulsstrom, Phasendauer 1 ms, also Neofaradisch. Aufgrund vieler Versuche stellte er fest, dass eine 10-50-10 Modus für das Training optimal sei: 10 Sekunden maximal spannen, 50 s Pause, 10 mal wiederholen, einmal am Tag (Andrianowa et al 1974). Koz benutzte anfänglich keine mittelfrequenten Ströme, diese wurden erst später eingesetzt und hatten eine etwas andere Auswirkung auf die Ermüdung.

Die gefundene Stromform und Trainingform ergibt physiologisch betrachtet durchaus einen Sinn: bei 50 Hz Stimulationsfrequenz liegen die Ermüdungsgründe in der Erschöpfung der Neurotransmitterreserven und Leitungsproblemen im T-Tubuli System, also keine Ermüdungserscheinungen, wie sie zum verbesserten Trainingzustand führen würden. Es ist also sinnvoll, die Ermüdung zu vermeiden, deshalb die 50 Sek Pause.

Später haben andere Wissenschaftler anstelle der Koz'schen Stromform einen mittelfrequenten Impulsstrom eingesetzt (Andrianova et al 1974). Diese in 50 Hz Bursts zerlegte MF-Strom mit einer Grundfrequenz von 2500 Hz löst aber eine relativ rasche Ermüdung über eben diese Mechanismen aus und kann deshalb nicht so effektiv sein wie die Form, welche Koz benutzte. Die höheren Frequenzen sind aber unumstritten viel angenehmer für das Training.

Die Stimulation findet entweder direkt am Muskel statt (über die motorischen Reizzonen), wobei Andrianova fand, dass Frequenzen um 2500 Hz optimal seien, oder indirekt am Nerv mit Frequenzen um 1000 Hz. Die Unterscheidung ist rein akademisch, da die sehr kurzen Impulse immer nur den Nerv reizen. Koz Behauptung, das Training sei aufgrund der verwendeten Frequenzen nicht schmerzhaft muss relativiert werden: seine Anwender, Eliteathleten in der ehemaligen UDSSR, waren gewöhnt einiges auf sich zu nehmen um zur Weltspitze gehören zu dürfen. Man sei hiermit auf den damaligen Zeitgeist hingewiesen.

Übrigens fanden Bergquist et al (2012) dass bei einer Quadriceps stimulation über den N femoralis mehr Motorunits rekrutiert werden als bei einer herkömmlichen Stimulation am Muskel. Da die Stimulation über den Nerv sich aber etwas unpraktisch gestaltet (die Reizelektrode verschiebt sich bei jede Kontraktion) und da nur etwa 30% der MVC erreicht wurde sehen die Untersucher den Einsatz eher als Ergänzung einer normalen Stimulation denn als deren Ersatz.

BMAC, Aussie Stimulation

Seit vielen Jahren haben Australische Untersucher in einer Gruppe um Alex Ward herum sich mit der RS befasst und haben versucht die Stimulation hinsichtlich Verträglichkeit und Effektivität zu optimieren. Dabei haben sie herausgefunden, dass ein 1000 Hz Wechselstrom, appliziert mit 2 ms bis 4 ms Bursts optimal sei (Ward 2009). Der Strom wurde in Anlehnung an die RS rasch als Aussie Stimulation bekannt. Da andere Untersucher später mit unterschiedlichen Parameter weitergeforscht haben aber trotzdem weiterhin die Bezeichnung benutzten hat man, um Verwirrung zu vermeiden den Ausdruck Burst Mode Alternating Current ins Leben gerufen: BMAC (C in der Abbildung oben).

Diese Bezeichnung ist vor zu ziehen da sie genau ausdruckt was gemeint ist und jeder Untersucher kann seine bevorzugte Parameter verwenden. Solange man diese korrekt rapportiert, versteht sich. Vor einigen Jahren hat sich ein neuer Stromform dazu gesellt, die Burst Modulated Biphasic Pulsed Current, oder BMBPC. Bei der BMAC benutzt man Bursts die aus sinusförmigen Einzelimpulsen bestehen, wie die RS. Die BMBPC bildet Bursts aus einem Wechselstrom der aus Rechteckimpulsen besteht (Abb. unten).

BMBPC
Abbildung: BMBPC: Burst Modulated Biphasic Pulsed Current, Rechteckimpulse

Die 1000 Hz-BMAC und 1000 Hz-BMBPC scheinen zur Kraftentwicklung gleich effektiv zu sein und sind deutlich effektiver als 2500 Hz BMAC (= Russian Stimulation) (Adams et al 2018).

Ob BMAC zur Kraftentwicklung effektiver ist als eine NF-Stimulation ist etwas umstritten, obwohl eine gewöhnliche NF-Stimulation die Nase vorn zu haben scheint. Da Silva et al (2015) konnten keinen Unterschied feststellen, Scott et al (2015) fanden NF-Stimulation zur Kraftentwicklung effektiver und Szecsi und Fornusek (2014) favorisieren BMAC. Medeiros et al (2017) fanden BMAC und NF zur Stimulation des M quadriceps gleich effektiv falls die gleiche Phasendauer (250 µs) benutzt wird (und gleich unangenehm). Stimulation mit längeren Phasen (500 µs) war aber effektiver zur Kraftentwicklung. Modesto et al (2019) fanden bei ihren Fußballspielern keinen Unterschied bei den Ergebnissen mit BMAC (2500 Hz, 250 µs) oder NF Stimulation (100 Hz, 200 µs). Die Probanden fanden NF aber angenehmer und deshalb sei diese Methode besser. Vas und Frasson fanden in ihrem Review (2018) keine Gründe BMAC zu bevorzugen gegenüber NF-Stimulation.