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Weshalb die Abgrenzung bei 1000 Hz ?
Im Niederfrequenz-Bereich gilt das Prinzip der periodensynchronen Reizung (= zyklussynchronen Reizung). Das bedeutet, dass jeder Impuls, sofern Phasendauer und Amplitude ausreichen, ein Aktionspotential auslöst. Dabei werden die Aktionspotentiale im gleichen Rhythmus wie die Frequenz des Stromes ausgelöst. 5 Impulse triggern 5 Aktionspotentiale. 50 Impulse triggern 50 Aktionspotentiale. 500 Impulse triggern ... keine Ahnung.
Erklärung im Nachfolgenden. Etwas Durchhaltewille ist gefragt.
Eine Nervenfaser hat eine maximale Depolarisationsfrequenz. Diese Frequenz wird durch die Refraktärzeit bestimmt und liegt theoretisch bei gut 300 Hz. Praktisch sind Frequenzen über 200 Hz eine Seltenheit (del Vecchio et al. 2019). Bis zu diesem Grenzfrequenzbereich wird jeder Impuls 1:1 ein AP auslösen.
Bei einer Stimulation mit einer Frequenz, die über die maximale Depolarisationsfrequenz hinausgeht, ändert sich die neurale Antwort. Erstens führt dies nach wenigen Sekunden zu einer Leitungsblockade, einem sog. High Frequency Electrical Conduction Block, siehe weiter unten. Zweitens benötigt es mehrere Impulse, um ein Aktionspotential auszulösen. Drittens fällt ein Teil der Impulse in die Refraktärzeit, sodass nicht jeder Impuls eine Depolarisation verursachen kann.
Stimuliert man also einen Nerv mit zum Beispiel 2000 Impulsen, kommen am anderen Ende keine 2000 Aktionspotentiale raus, sondern nur einige Hundert und dies auch noch unregelmäßig. Dieses Phänomen nennt man asynchrone Depolarisation oder periodenasynchrone Reizung. Deshalb macht man die großzügig aufgerundete Abgrenzung zwischen Nieder- und Mittelfrequenz bei 1000 Hz.
Im Hochfrequenz-Bereich, über 300 kHz, werden elektromagnetische Wellen verwendet, die eine Wärmewirkung in der Tiefe (Diathermie) haben und keine elektrochemischen und neuromuskulären Reizwirkungen auslösen, außer solchen im Zusammenhang mit der Erwärmung.
Summation, Gildemeistereffekt
Der Physiologe Gildemeister hat Anfang des vorigen Jahrhunderts entdeckt, dass bei der MF mehrere Impulse notwendig sind, um eine Erregung auszulösen (Gildemeister 1944). Jede negative Halbperiode depolarisiert die Zellmembran ein wenig mehr, bis schließlich nach einer bestimmten Anzahl von Wechselstromperioden (Gildemeister nennt das die Effektivzeit) die Depolarisationsschwelle erreicht ist. Anschließend wird ein Aktionspotential ausgelöst.
Je höher die Amplitude, also die eingestellte Intensität, umso kürzer die Effektivzeit. Gildemeister erkannte dieses Phänomen als eine Summation. Bromm und Lullies (1966) haben das Phänomen weiter untersucht und festgestellt, dass die kathodischen Halbwellen des Sinus die schrittweise Depolarisation bewirken und dass die direkt darauffolgenden anodischen Sinushalbwellen nicht ausreichen, um diese Depolarisation entgegenzuwirken. Der Effekt tritt unter beiden Elektroden auf.
Genau dasselbe passiert übrigens, wenn symmetrisch kompensierte Rechteckimpulse benutzt werden, nur tritt hier keine Summation auf (Bromm und Lullies 1966). Man nannte dieser Effekt später „Gildemeistereffekt“. Das Wissen um dieses Phänomen erschwert die Erklärung der Wirkung von MF-Strömen auf das Gewebe.
Wir können nämlich nie genau vorhersagen, mit welcher Frequenz das Zielgewebe gereizt wird. Dies wird weiter unten ausführlich erklärt.
High Frequency Electrical Conduction Block
Der Physiologe Wedensky hat 1903 ein interessantes Phänomen beschrieben, welches er bereits 1884 entdeckt hatte. Beim Stimulieren von Aα-Motoneuronen war ihm unter anderem aufgefallen, dass bei der Verwendung von mittelfrequenten Strömen die ausgelösten Muskelkontraktionen sehr rasch schwächer wurden oder nach kurzer Zeit gar ganz ausblieben. Bei der Verwendung von niedrigeren Frequenzen waren sofort wieder kräftige Kontraktionen auslösbar. Eine Erklärung für dieses Phänomen gab es damals nicht, man nannte es später „Wedensky-Hemmung“ (Bowman and McNeal 1986).
Heute weiß man, dass die hohen Frequenzen Konsequenzen haben für die Reizung: Ein Teil der Impulse fällt in die Refraktärperiode des Nerven. Dadurch wird die Repolarisation der Membran schwieriger oder sogar unterbunden. Dies bewirkt nach wenigen Sekunden unter den Elektroden eine ebenso rasch reversible tonische Depolarisation der Membran: das Ruhepotential wird nicht mehr erreicht (Bhadra und Kilgore 2004; Kilgore und Bhadra 2004). Es können folglich keine Aktionspotentiale mehr fortgeleitet werden: Man hat einen Leitungsblock geschaffen.
Diese Art von Leitungshemmung bezeichnet man heute als High Frequency Electrical Conduction Block (Bowman und McNeal 1986). Das Phänomen ist klinisch-therapeutisch interessant bei der Hemmung unerwünschter Muskelaktivität, z. B. bei Spastizität, und vielleicht bei der Schmerzhemmung.
Außer diese Hemmung führt die fortdauernde Reizung zur raschen Erschöpfung der Neurotransmittervorräte an der motorischen Endplatte. Die erschöpfte Endplatte vermag nicht länger Aktionspotentiale weiterzuleiten, um die Muskelfasermembran zu depolarisieren. Dieses Phänomen äußert sich auch als Hemmung und ist ein Aspekt der Ermüdung.
Weshalb überhaupt Therapie mit MF-Strom?
Mittelfrequente Ströme sind also seit langem bekannt und wie immer ist es eine Frage der Zeit, bis man anfängt, sich Gedanken über deren Einsatz zu machen. Meistens machen entweder das Militär oder die Medizin den ersten Schritt (Ultraschall, Infraschall, Laser, Mikrowellen usw.), mit großer Aufmerksamkeit verfolgt von der Wirtschaft.
Man hat mit MF-Strömen die Möglichkeit, im Gewebe Reize zu setzen, und Gildemeister hat mit seinen vielen Versuchen an Menschen festgestellt, dass der Strom nicht mal so unangenehm ist und trotz hoher Intensitäten nur selten zu ernsthaften Nebenwirkungen führt (Gildemeister 1944). Außerdem wäre rein rechnerisch der Hautwiderstand wegen der hohen Frequenz niedriger als bei Niederfrequenz (später mehr zu diesem Thema).
Das Problem war aber die bereits erwähnte Wedensky-Hemmung. Was nun?
Man sollte den Strom so gestalten können, dass die Nervenfasern die Chance bekämen, zu repolarisieren, sodass die erwähnten Hemmungsmechanismen nicht aufträten. Lösung: Man bildet aus einem kontinuierlichen MF-Wechselstrom einen Strom, der die Impulseigenschaften eines NF-Stromes mit den Vorteilen eines MF-Stromes kombinieren soll.
Lösung eins
Die einfachste und naheliegendste Lösung ist chronologisch betrachtet Lösung zwei: Sie wurde in Russland Ende der 1960er ausgedacht, einige Zeit nachdem der österreichische Ingenieur Nemec seine Methode entwickelt hatte. Nach der russischen Methode unterbricht man den konstanten mittelfrequenten Strom bereits im Gerät so, dass die Nervenfasern die Gelegenheit bekommen, zu repolarisieren. Die Wedensky-Hemmung wird somit verhindert, weil sie ja erst nach einigen Sekunden Dauerreizung auftritt.
Es werden dazu sog. MF-Impulse gebildet, wobei die impulsinterne Frequenz immer der Frequenz der gewählten MF-Frequenz entspricht, bei den Russen waren das damals 5000 Hz. Dies bedeutet, dass bei Einstellung einer Reizfrequenz von zum Beispiel 50 Hz der MF-Strom 50-mal pro Sekunde unterbrochen wird. Man spricht bei dieser Stromart von einem frequenzmodulierten mittelfrequenten Strom oder MF-Impulsverfahren, die Pulsform war sinusoidal (Abb. 3.7, Variation C). Ward und Oliver (2007) nennen es heute Burst Mode Alternating Current (BMAC) und man spricht von Bursts oder Trains. Diese MF-Pulse
sind also keine Einzelpulse sondern Blöcke
die aus mehreren Impulsen bestehen.
Einige Leser mögen den Strom wiedererkennen als Russian-Stimulation avant la lettre, oder – in leicht abgeänderter Form – als Aussie-Stimulation. Mehr zu diesem Thema im Kapitel Muskelstimulation.
Lösung zwei
Die zweite Lösung ist deutlich komplizierter, aber verleiht dem Strom deshalb wahrscheinlich eine gewisse Mystik (Johnson 1999). Obwohl die Idee nachweisbar definitiv nicht funktioniert, ist sie auf jedem Fall originell (Treffene 1983; Beattie et al. 2011).
Ausgangslage: Wenn zwei Wellen aufeinander treffen, kommt es zu Interferenzphänomenen.
In Abb. 3.8 führt die Überlagerung links zu einer Verdoppelung der Wellenenergie, rechts löschen die Wellen sich gegenseitig aus: Das energetische Nettoresultat ist gleich Null. Wenn die Wellen sich ganz wenig in der Frequenz unterscheiden, können sie sich nie exakt überlagern. Es kommt in der Folge zu einer sogenannten Schwebung: Die Intensität nimmt dann zu und ab in einer bestimmten Frequenz: Dies nennt man die Schwebungsfrequenz (englisch: beat).
Die Gitarrenspieler unter uns wenden dieses Prinzip an, wenn sie ihr Instrument mit Flageoletts stimmen. Je näher die Töne, also ihre Frequenzen, von zwei Saiten bei aneinander liegen, umso niedriger ist die Schwebungsfrequenz, je weiter auseinander, umso höher ist die Schwebungsfrequenz. Liegen zwei Töne sehr nahe beisammen, die A-Saite ist zum Beispiel schön auf 440 Hz gestimmt, die zu stimmende Saite produziert „fast“ ein A mit 443 Hz, dann entsteht als Differenzton eine Schwebung mit der Frequenz 3 Hz (443 minus 440). Dies wird beim Stimmen der Gitarre hörbar: Es ist immer noch ein A (fast), die Lautstärke (die Intensität) nimmt aber 3-mal pro Sekunde zu und ab, man hört die Schwebung von 3 Hz.
Beim sog. echten Interferenzstrom (IF) geht das wie folgt: Es wird ein Wechselstrom mit konstanter Frequenz von 4000 Hz (der sog. Trägerfrequenz) zusammengefügt mit einem Wechselstrom, dessen Frequenz zwischen 4000 und 4200 Hz eingestellt werden kann. Aus der Differenz der beiden Frequenzen ergibt sich dann, wie bei den Schallschwingungen, die Schwebungsfrequenz. Nur spricht man bei IF nicht von Schwebung, sondern von der Amplituden-Modulations-Frequenz (AMF): Die Frequenz bleibt ja konstant, nur die Amplitude (die Intensität) wird moduliert. Daher auch der offizielle Name: amplitudenmodulierter mittelfrequenter Strom.
Beispiel: Der eine Kreis hat eine feste Frequenz von 4000 Hz, den anderen Kreis stellt man auf 4050 Hz ein, die Differenz beträgt 50 Hz. Dies ist die AMF: die eigentliche (vermeintliche) Reizfrequenz, die im Gewebe etwas auslösen soll und angeblich die gleiche Eigenschaften besitzt wie ein niederfrequenter 50 Hz Pulsstrom.
Die niederfrequenten Unterbrechungen (die Schwebungen) verhindern mit ihren ein- und ausschleichenden Ein-Aus-Phasen tatsächlich einen Leitungsblock: Der kontinuierliche MF-Strom wird dauernd unterbrochen. Auf diese Weise kann die Zellmembran immer wieder repolarisieren.
Dazu werden nach Nemec auf technisch recht komplizierte Weise zwei separate MF-Stromkreise verwendet mit zwei Paar Elektroden, auch tetrapolare Interferenz genannt. Die zwei Stromkreise sollen im Gewebe zusammengefügt werden und so einen NF-Reizcharakter bekommen. Dies nennt man endogene Interferenz.
Werden diese zwei Stromkreise im Gerät zusammengefügt, spricht man von einer exogenen Interferenz, welche also bipolar ist, man braucht dazu keine 4 Elektroden. Im englischen Sprachraum benutzt man die Bezeichnungen „true interferential current“ resp. „premodulated interferential current“.
An der Interferenz-Lokalisation (im sogenannten Interferenz-Kreuz) würde im theoretischen Idealfall die Amplitude (Intensität) der zwei aufeinandertreffenden Stromkreise sogar fast verdoppelt. Wie bei den Ultraschallwellen käme es zu Verstärkungen (Intensitätszunahmen) und Abschwächungen (Intensitätsabnahmen) der am Gerät eingestellten Intensität in mA. Die Trägerfrequenz (im Beispiel oben der Ton A) bleibt gleich. In der Praxis sieht das aber ganz anders aus. Spoiler alert: es funktioniert nicht ...
Spezielle Eigenschaften von mittelfrequenten Strömen
Mittelfrequenter Wechselstrom ist ein symmetrisch kompensierter Wechselstrom mit einer Frequenz zwischen 1000 und 300.000 Hz. In der Regel werden Frequenzen zwischen 2500 und 10.000 Hz eingesetzt, am häufigsten, aus unklaren Gründen 4000 Hz (Johnson 1999). Meistens werden sinusförmige Impulse benutzt. Wegen der symmetrischen Kompensation treten normalerweise keine elektrolytischen Effekte auf.
Deshalb ist MF aber nicht harmlos! Bei einer Untersuchung von Ward und Robertson (1998) zeigten sich nach einer Anwendung bei 3 gesunden Probanden Blasen um die Elektroden herum. Ford et al. beschrieben 2005 einen Patienten mit Verbrennungen 3. Grades nach einer MF-Anwendung am Knie nach einer Kniegelenksersatzplastik. Satter beschrieb 2008 einen Patienten mit Verbrennungen nach MF mit Osteosythesematerial im Behandlungsbereich.
Was bei der kurzen (125 μs bei 4000 Hz), negativen Halbwelle im Gewebe an chemischen Veränderungen auftritt, wird bei der darauffolgenden positiven Halbwelle wieder entgegengewirkt, genauso wie bei kompensierten TENS-Impulsen. Ohne chemische Veränderungen tritt im Gewebe keine pH-Veränderung auf und das Risiko einer Gewebeschädigung ist gering. Wegen der raschen Polaritätswechsel an den Elektroden bezeichnet man den Strom als apolar.
Wyss (1975) spricht von einer ambipolaren Reizung, aber da sich die Prozesse unter den Elektroden nicht genau gleichzeitig abspielen, sondern mit einer halben Phase Verschiebung, folgt auch der MF-Strom ganz normal den Gesetzen der polaren Reizung (Bromm und Lullies 1966). Aber wer will da schon Erbsen zählen.
Die kurzen Impulse (125 μs bei 4000 Hz) reizen, wie die ebenso kurzen High TENS-Impulse, praktisch keine Aδ- und C-Fasern, deshalb ist der Strom meist recht angenehm für den Patienten. Wohlgemerkt: Je nachdem, wie hoch man die Intensität aufdreht, bei hohen Intensitäten wird auch MF-Strom unangenehm (Ward und Robertson 1998; Palmer et al. 1999; Ward and Oliver 2007).
Nach Nemec (1959, 1960, 1967, 1968) hat Interferenzstrom drei Vorteile:
1. Wegen der hohen Frequenz sei der Hautwiderstand geringer und sei es für den Strom einfacher, die sehr schlecht leitende Hautbarriere zu passieren. Dies hätte zu Folge, dass die sensorische Belastung für den Patienten geringer wäre, folglich sei der Strom angenehmer für den Patienten.
• So einfach ist das nicht. Erstens weil der Widerstand nicht nur von der Frequenz abhängt, sondern auch von der Phasendauer (Lykken und Venables 1971; Yamamoto und Yamamoto 1977) und bei einer Frequenz von 4000 Hz beträgt die Phasendauer 125 μs, im gleichen Bereich wie bei TENS-Anwendungen. Fakt ist dennoch, dass die Hautimpedanz bei Mittelfrequenz niedriger ist als bei Niederfrequenz. Die Zusammensetzung der Frequenzen hängt aber entscheidend von der Signalform ab. Und da kann es schon so kommen, dass unterschiedliche Signalformen gleiche Impedanzen hervorrufen. Beide Anwendungen können deshalb, je nach Intensität, etwa gleich (un)angenehm sein. Zweitens ist es eigentlich egal, dass der Hautwiderstand hoch ist. Dieser hohe Widerstand wird verursacht durch das Stratum corneum, wo sich keine Sensoren befinden. Die relevanten Sensoren, die für den sensorischen Aspekt des Stromes verantwortlich sind, liegen unter diese Schicht, da wo die elektrischen Eigenschaften gleich sind, wie tiefer im Gewebe.
2. Die zwei Stromkreise würden miteinander interferieren und im sog. Interferenzkreuz einen Bereich bilden, wo das Zielgewebe maximal stimuliert wird (Abb. 3.9).
• Das stimmt definitiv nicht. Die Interferenzphänomene treten fast überall zwischen den 4 Elektroden auf, am wenigsten aber in der Mitte. Erstens nimmt mit dem Abstand zur Elektrode die Stromdichte ab und diese ist demnach in der Mitte zwischen den Elektroden am geringsten. Die Reizung direkt unter den Elektroden ist immer am stärksten. Treffene hat 1983 gezeigt, dass Interferenzphänomene in einem mit Wasser gefüllten Kunststoff-Becken fast überall zwischen den Elektroden auftreten, leider am schwächsten da, wo sie sollten, in der Mitte eben; hier waren sie minimal. Die Stimulation war zwischen zwei nebeneinander platzierten Elektroden größer als im Bereich, wo die Stromkreise sich kreuzen sollten.
• Im Gegensatz zum oben erwähnten Wasserbehälter ist der Körper nicht homogen, deshalb ist es unmöglich, dass die Spannungslinien so verlaufen, dass sie sich am „richtigen“ Punkt zur Interferenz kreuzen. Beattie et al. haben 2011 am Menschen Messungen durchgeführt am medialen M. quadriceps, um festzustellen, wie die Spannungsverteilung beim tetrapolaren Interferenzstrom im Muskel aussieht. Dazu wurden an verschiedenen Stellen relativ zu den 4 Reizelektroden Messelektroden gestochen. Ergebnis: Die höchste Spannung wurde nahe einer Reizelektrode gemessen, die niedrigste in der Mitte beim angeblichen Interferenzkreuz. Eine Messelektrode 5 cm außerhalb des Stimulationsbereiches der 4 Reizelektroden registrierte fast doppelt so hohe Werte als im vermeintlichen Interferenzkreuz. Die Autoren verglichen außerdem exogene IF mit endogener IF und stellten fest, dass bei exogener IF da, wo die Interferenz im Gerät stattfindet, und nicht im Patienten, die größte Spannung, wie zu erwarten war, oberflächlich nahe den Elektroden gemessen wird.
3. Im Interferenzkreuz würde sich ein Bereich bilden mit der eigentlichen Reizfrequenz, der Amplitudenmodulationsfrequenz oder AMF. Die AMF, oder Schwebungsfrequenz, wird bestimmt durch die unterschiedlichen Frequenzen der zwei Stromkreise und liegt typischerweise, je nach Einstellung, im üblichen Niederfrequenzbereich von 1 bis 200 Hz. Diese AMF hätte nicht die gleichen Eigenschaften wie die NF-Frequenzen, sondern „echte MF-Reizeffekte durch die MF-Trägerfrequenz selbst“ (Edel 1977).
• Da stimmt so einiges nicht. Erstens: siehe den Punkt oben. Zweitens: Der Grund für das Auftreten der „echten MF-Reizeffekte“ ist physiologisch bestenfalls vage. Drittens: Es wird trotzdem immer wieder behauptet, dass das Gewebe auf diese 50 Hz AMF genau so reagiert wie auf einen niederfrequenten Strom gleicher Frequenz, Effekte wie Schmerzlinderung und Durchblutungsverbesserung sollen bei MF-Strom ebenso auftreten wie bei NF. Darüber später mehr.
Erstmal zur AMF: Wenn mit Niederfrequenz an einem Ende einer Nervenfaser mit 50 Hz stimuliert wird, kann man am anderen Ende 50 Aktionspotentiale erwarten. Dies funktioniert bis zu einer bestimmten physiologischen Grenze und diese Grenze wird, wie bereits erwähnt, bestimmt durch die Refraktärperiode des Nerven.
Schauen wir uns das mal genauer an. Der Teil vom Impulsstrom, der den Reiz erzeugen soll, besteht aus einer kurzen Serie von Einzelimpulsen (Abb. 3.7c und d), die man als Burst bezeichnet. Die Dauer solcher Bursts ist je nach Gerät entweder festgelegt oder variabel, solange diese 50 Hz in einer Sekunde „hineinpassen“. Wenn ein Burst zum Beispiel 10 ms dauert, besteht er (bei 4000 Hz Grundfrequenz) aus 10 ÷ 1000 × 4000 = 40 Wechselstromimpulsen.
Nun kommt die Refraktärperiode ins Spiel. Während der absoluten Refraktärperiode kann die Faser definitiv kein Aktionspotential generieren, diese Phase dauert etwa 1 ms. Danach, während der relativen Refraktärperiode, kann die Nervenfaser ein AP generieren, aber nur wenn der Reiz deutlich stärker ist als normal. Diese Phase dauert etwa 2 ms. Aus diesem Grund hat die Refraktärperiode erst einen Einfluss, wenn Feuerungsraten auftreten mit einer höheren Frequenz als etwa 300 Hz, etwas, was im menschlichen Nervensystem ungewöhnlich ist.
Diese 300 Hz entsprechen 1/13 der durch den MF-Strom erzeugten 4000 Hz. Anders gesagt: Maximal jeder 13. MF-Impuls könnte ein Aktionspotential auslösen (Bowman und McNeal 1986). Jeder Burst löst mit seinen 40 Impulsen also am Nerv maximal etwa 3 Aktionspotentiale aus, die 50 Bursts pro Sekunde triggern insgesamt 150 Aktionspotentiale (40 ÷ 13 × 50).
Das Zielgewebe wird demnach nicht mit 50 Hz, sondern mit 150 Hz stimuliert. Vielleicht. Denn es bleiben einige Impulse bei der sinusoidalen endogenen Variante unterschwellig (Abb. 5.7d); die lösen wahrscheinlich nichts aus, aber vielleicht spielt hier der Gildemeistereffekt mit.
Wir wissen aber nicht, wie dieser Effekt in diesem Prozess mitspielt, da wir nicht wissen, wie viele einzelne MF-Impulse benötigt werden, um durch Summation ein Aktionspotential auszulösen. Vielleicht werden nur 3 Impulse pro Burst benötigt. Oder deren 8. Oder es variiert. Genau 50 Hz werden es aber bestimmt nicht sein, dafür ein Vielfaches der eingestellten Burst-Frequenz.
Für diese Behauptungen gibt es eine solide Basis (Bowman und McNeal 1986; Stefanovska and Vodovnik 1985; Laufer et al. 2001; Ward und Robertson 2000; Laufer und Elboim 2008). Dieses öde Rechenbeispiel soll klarmachen, dass das Gewebe trotz der niedrigen AMF-Einstellungen mit recht hohen Frequenzen stimuliert wird. Ob das biologisch sinnvoll ist, ist unklar und unerforscht.
Außerdem soll das Rechenbeispiel klarmachen, dass Aussagen wie „die AMF bestimmt die Depolarisationsfrequenz“ und „die AMF korrespondiert mit den Frequenzen, die in der Niederfrequenz benutzt werden“ (den Adel und Luykx 2005 in einem Therapiehandbuch eines Geräteherstellers) nicht stimmen.
Wir dürfen die Ergebnisse der TENS-Forschung eindeutig nicht auf MF-Strom anwenden.
Spektrum, Durchlauf und Vektor
Zur Optimierung der MF-Wirkung und zur Vermeidung einer Gewöhnung gibt es an jedem Klinik-Gerät unterschiedliche Einstellmöglichkeiten, wovon vier fast immer vorhanden sind, allerdings meistens unter verschiedenen Namen. Man hat die Möglichkeit, die AMF zu wählen, also die angebliche Reizfrequenz. Außerdem hat man die Möglichkeit der Wahl eines sog. Spektrums und der Art, wie das Spektrum „durchlaufen“ wird, und die eines Vektors.
Ein Spektrum, oder „sweep“ auf Englisch, ist ein AMF-Bereich, der automatisch schrittweise durchlaufen wird. Zum Beispiel: Man stellt als untere Grenze 70 Hz ein und als obere Grenze 120 Hz und das Gerät ändert nun in einem bestimmten Rhythmus die AMF von 70 bis 120 Hz und zurück. Andere Geräte verlangen, dass man zum Beispiel 70 Hz einstellt und dazu ein Spektrum von 50 Hz, und das Gerät macht dasselbe wie im ersten Beispiel: 70 Hz → 120 Hz → 70 Hz.
Manchmal wählt man einfach Programm 42, weil das Gerät das vorschlägt, und dasselbige macht den Rest. Hier lohnt es sich, die Bedienungsanleitung zu studieren.
Außerdem bietet jedes Gerät die Möglichkeit, den Durchlaufmodus zu wählen. Diese Modi würden den Durchlauf aggressiver oder milder gestalten, je nach Aktualität des Problems. Es gibt Einstellungen, bei denen die obenerwähnten 70 bis 120 Hz abrupt wechseln, zum Beispiel eine Sekunde 70 Hz und sofort danach eine Sekunde 120 Hz und zurück, oder über 6 Sekunden langsam zunehmend von 70 bis 120 Hz und ebenso langsam wieder runter. Dies selbstverständlich mit jeder erdenklichen Frequenzkombination.
Johnson und Tabasam (2003a, b) haben an gesunden Probanden mit einem schmerzhaften Kältereiz (Arm in eiskaltes Wasser) in zwei Studien untersucht, wie diese Einstellungen die Kälteempfindlichkeit beeinflussen. Einstellungen bei beiden Studien: Trägerfrequenz 4000 Hz, IF tetrapolar am Vorderarm, Intensität sehr deutlich spürbar, aber auszuhalten, Dauer 20 Minuten. Die Probanden waren „blind“.
Erste Studie: 60 Probanden, AMF-Frequenzen 20, 60, 100, 140, 180, 220 Hz. Bei der zweiten Studie 40 Probanden, AMF von 1 bis 100 Hz, Durchlauf 1–1 abrupt, 6–6 abrupt, 6–6 langsam und 100 Hz Bursts (Burst-Dauer unklar). Ergebnis: IF erhöht die Schmerzschwelle für den Kältereiz, aber weder die Frequenz noch der Durchlaufmodus haben einen Einfluss auf das Ergebnis. Fuentes et al. (2010) kamen mit gesunden Probanden zum gleichen Ergebnis: IF erhöhte mit und ohne AMF-Durchlauf am Rücken gleichermaßen die Druckschmerzschwelle.
Dann gibt es noch den Vektor. Ob es sich hier nun um ein „isoplanares Feld“, einen „Dipolvektor“ oder einen „rotierenden Vektor“ oder was auch immer handelt: Der elektronische Trick besteht darin, dass im Gerät entweder eine Amplitudenmodulation stattfindet oder dass die Intensität der einzelnen Kanäle laufend variiert wird. Oder beides. Dies fühlt sich dann an, als ob der Strom im Behandlungsgebiet „herumwandern“ würde. Tatsächlich bedeutet es, dass die Elektrodenplatzierung weniger Ausschlaggebend ist.
Noble et al. (2000) konnten beim Einsatz eines „rotierenden Vektors“ keinen Mehrwert für das Ergebnis (eine leichte Durchblutungsverbesserung) feststellen.
Überlegungen zur Therapie mit mittelfrequenten Strömen
Es gibt eine Vielzahl von Studien, welche die Wirksamkeit von TENS bestätigen. TENS ist außerdem einfach anzuwenden, praktisch nebenwirkungsfrei, die Geräte sind handlich und kosten nicht die Welt. Die Wirksamkeit von mittelfrequenten Strömen ist bestätigt, MF wirkt besser als eine Placebobehandlung, aber nicht besser als TENS (Tab. 3.6). Die Geräte sind teuer, der Patient muss für eine Behandlung in die Klinik oder Praxis fahren, die Erklärungen zu den Wirkungsmechanismen sind bestenfalls vage und teilweise völlig unhaltbar. Das Argument gegen IF, dass die Geräte mehr kosten als TENS-Geräte, geht nicht mehr ganz auf, es gibt heute walkmangroße Geräte für die Heimbehandlung in der gleichen Preisklasse wie sehr teure TENS-Geräte. Vergessen wir mal das tetrapolar erzeugte IF-Kreuz, das gibt es nicht, wo man es haben möchte. Wenn man IF einsetzt, dann sollte man die prämodulierte Variante wählen.
Mit einer 08/15-Einstellung wie: Trägerfrequenz 4000 Hz, AMF 80 Hz, Spektrum 50 Hz, Durchlauf 6/\6, Intensität deutlich spürbar, aber angenehm, kommt man bei empfindlichen Patienten sehr weit. Nebenbei: das Symbol „6/\6“ am Gerät bedeutet „während 6 s langsam zunehmend, danach während 6 s abnehmend“.
Die Frequenzeinstellung (AMF) und das Durchlaufprogramm (swing pattern) haben keinen Einfluss auf die Wirkung (Johnson and Tabasam 2003a, b). Man kann die verschiedenen Einstellungen am Gerät also dazu benutzen, die Anwendung für den Patienten so angenehm wie möglich zu gestalten.
Die Wirkung lässt sich am ehesten über einen Gate-Control-Mechanismus erklären: Es werden mit Sicherheit schnellleitende Nervenfasern stimuliert. Es gibt aber keine Untersuchungen, die dies, so wie bei TENS, bestätigen. Auch ist nicht bekannt ob Substanzen wie Endorphine, Dynorphin und Enkephaline an der Wirkung beteiligt sind, Pubmed gibt bei der Suche interferential current AND endorphine
0 (null, zero) Treffer. Die Interferenzler bedienen sich hier also ziemlich unverschämt bei der TENS-Forschung.
Eins scheint mir ziemlich sicher: Je mehr der Therapeut sich anstrengt, das Interferenzkreuz
an der richtigen Stelle
zu lokalisieren, umso größer wird der Placeboeffekt.
Shanahan und Ward haben 2006 gezeigt, dass High TENS bezüglich der Schmerzlinderung IF objektiv überlegen ist. Die Probanden fanden die IF-Anwendung aber angenehmer.
Das ist nicht unproblematisch: Sollen wir uns nun nach den Fakten oder nach den Patienten richten? Nach dem Motto: Es wirkt zwar nicht so gut, aber es fühlt sich so schön an?
Stoff zum Nachdenken Leute!