Haben wir mit der Verwendung von MF-Strömen etwa ein ethisches Problem?

Herbert et al (2011) definieren Evidenzbasierte Physiotherapie wie folgt:

Evidenzbasierte Physiotherapie ist Physiotherapie, welche auf relevanter, qualitativ hochwertiger Forschung fußt. Die Praxis der evidenzbasierten Physiotherapie sollte durch relevante, qualitativ hochwertige klinische Forschung, die Präferenzen der Patienten und das praktische Wissen des Physiotherapeuten geprägt sein.
(Hervorhebung von mir)

Als Präferenzen des Patienten gelten dessen Erwartungen, Ansichten und Ziele. Selbstverständlich stehen diese im Mittelpunkt. Nichtwahr?

Veras et al (2016) fanden die Definition unzureichend, weil sie gewisse ethische Aspekte wie Autonomie, Wertschätzung und Gerechtigkeit nicht berücksichtigen würde. Sie möchten die Definition des WCPT anpassen und haben deshalb den nachfolgenden Vorschlag gemacht

Evidenzbasierte Physiotherapie ist ein Studien-, Forschungs- und Praxisbereich, in dem klinische Entscheidungen auf der Grundlage der besten verfügbaren Evidenz getroffen werden, wobei Berufspraxis und Expertenwissen mit ethischen Prinzipien integriert werden.

(Übers. und Hervorheb. von mir)

(O-Ton: EBP is an area of study, research, and practice in which clinical decisions are based on the best available evidence, integrating professional practice and expertice with ethical principles.)

Roman (2017) beschreibt wie Hersteller von medizinischen Geräten und deren Benutzer in ethische Konflikte geraten können, wenn Geräte hergestellt, verkauft und eingesetzt werden für deren Wirksamkeit es entweder keine oder nur wenige, zum Teil widersprüchliche Beweise gibt. Es gibt eine Vielzahl von Geräten auf dem Markt die jeder Professional problemlos als unseriös erkennt, insbesondere solche die von rheumatischen bis zu psychischen Problemen überall eingesetzt werden können und feinstoffliche Harmonien von Gravomagnetischen Wellen mit Tiefenwirkung schonend zum Schwingen bringen.

Gilt das etwa auch für IF?

Mit TENS verfügen wir über eine gut erforschte Anwendung wovon die Wirkung bestätigt ist. Die Anwendung ist praktisch Nebenwirkungsfrei und kann nach einer entsprechenden Einführung von den meisten Patienten kostengünstig zuhause durchgeführt werden. IF-Geräte sind teuer und groß und der Patient muss für eine Behandlung in die Klinik oder Praxis wo die Anwendung den Einsatz einer Fachperson bedingt. Die Beweislage für die Effektivität ist dünn, obwohl die Befürworter der Therapie immer wieder unbewiesene Behauptungen zu spezifischen MF-Strom Eigenschaften vorbringen, welche die Therapie unterscheiden würde von der herkömmlichen Elektrotherapie.

Zugegeben, besondere Eigenschaften gibt es, aber die sind nicht spezifisch für MF, TENS hat die auch. Wir können aber bis heute nicht beurteilen in wie fern die Ergebnisse von zum Beispiel Dertinger und Phillipps und ihre Mitarbeiter irgendwelche klinische Relevanz haben bzw. umsetzbar sind außer bei Psoriasis Patienten (1998, 2004). Die Untersucher haben MF in einer kleinen Untersuchung bei Psoriasis Patienten mit Erfolg angewandt (Phillipp et al 2000). Weitere, größere Studien und Langzeitergebnisse liegen nicht vor, die Therapie scheint aus finanziellen Gründen eingeschlafen zu sein.

Kleiner Exkurs: Die Forscher hatten entdeckt, dass gewisse Modulationsfrequenzen von MF-Strömen im Labor an Zellkulturen unter ganz speziellen Bedingungen die Produktion von cAMP stimulieren. Es gibt Frequenzen die besser stimulieren als andere und solche die hemmen. Die Untersucher sprechen von einem Frequenzfenster, vergleichbar mit dem Absorptionsspektrum von Licht bzw Laser. Dieses cAMP (cyclisches Adenosin Monophosphat) ist als 2nd messenger Protein an sehr viel verschiedenen biologischen Prozessen beteiligt, von der Spermatogenesis bis zur Regelung des zirkadianen Rhythmus, an Stoffwechsel- und Immunprozessen bis hin zum Schmerzgedächtnis (Silva et al 1998, Serezani et al 2008, Ould Amer und Hebert-Chatelain 2018). Übrigens beeinflussen andere Ströme wie 50 Hz Wechselstrom, TENS und Elektroakupunktur die cAMP Produktion ebenso und zwar nicht in nur einer Petrischale sondern an lebenden Ratten (Ding et al 2013) und Mäusen (Kim et al 2018). Die angeblich spezifische Wirkung vom MF Strom daran auf zu hängen wäre wohl etwas vereinfachend bzw. kurzsichtig und wie bereits erwähnt: klinische Konsequenzen hat dieses Wissen noch nicht.

Was der MF Sache bestimmt nicht hilft ist die Vermarktung einer Applikation die einerseits als Ton bezeichnet wird aber de Fakto MF Strom auf das Gewebe losslässt. Dies mit dem unbegründeten Anspruch alles zu können was aus der Elektrotherapie bekannt ist ohne entsprechende Studien nach zu liefern aber selbstverständlich mit optimierter Wirksamkeit und Verträglichkeit. (O-Ton auf der Website des Erfinders). Weshalb gewisse Versicherer die Kosten für diese Behandlung übernehmen ist mir ein Rätsel.

Zurück zu den Präferenzen des Patienten.

Bedeutet das dann auch, dass der Therapeut das machen muss was der Patient sich wünscht?

Nachfolgend ein Beispiel.
TENS und IF gehören zu den am meisten benutzten Anwendungen zur Schmerzlinderung und deren Effekte wurden und werden weltweit sowohl im Labor wie klinisch untersucht. Die Wirkung von TENS bei den unterschiedlichsten Schmerzen gilt als gesichert, unter der Voraussetzung, dass die Intensität stimmt. IF kommt bei der Schmerzlinderung nicht schlecht weg, obwohl die Beweislage eher dünn ist. Die aktuellste Reviews (Stand September 2020) bescheinigen IF bei der Behandlung von Schmerzen diverser Art auf jedem Fall eine bessere Wirkung als eine Plazebo Behandlung aber meistens gleich gut wie TENS oder weniger gut (Almeida et al 2018, Ferreira et al 2018, 2019, Resende et al 2018, Galasso et al 2020).

Aber.

Shanahan et al (2006) verglichen die Wirkung von High TENS (100 Hz, 100µs, 20 Minuten) und IF (exogen, AMF 100 Hz, 5000 Hz, Phasendauer 100 µs, 20 Minuten) bei der Unterdrückung eines schmerzhaften Kältereizes. Die Intensität bei beiden Anwendungen war adäquat und bei beiden gleich: deutlich aber angenehm (strong but comfortable). Das Ergebnis: TENS war signifikant effektiver aber die Probanden bevorzugten IF weil diese Anwendung angenehmer sei.

Ein solches Ergebnis stellt uns vor ein ethisches Problem: wende ich eine Therapie an wofür die Wirksamkeit belegt ist oder mache ich etwas, was weniger wirksam ist, aber dem Patienten besser gefällt? Schließlich geht es auch um Geld.

Machen wir einen Ausflug in die Gesundsheitspolitik/Versorgungsforschung. (Mit einem schönen Gruß an Prof. Dr. Stefan Greß, Hochschule Fulda.)

Der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen hat dazu ein Paar Begriffe definiert (ab Seite 19)

Unterversorgung ist eine Versorgung bei individuellem, professionell und wissenschaftlich anerkanntem Bedarf, die verweigert wird, oder nicht (zumutbar) erreichbar zur Verfügung gestellt wird, obwohl an sich Leistungen mit hinreichend gesichertem medizinischen Nutzen und einer akzeptablen Nutzen-kosten-Relation vorhanden sind.

Überversorgung bezieht sich auf Versorgungsleistungen, die über die individuelle Bedarfsdeckung hinaus gehen und/oder ohne hinreichend gesicherten medizinischen (Zusatz-)Nutzen (z.B. aus Unwissenheit, Gefälligkeit, zu Marketingzwecken oder aus Einkommensinteressen) gewährt werden.

Fehlversorgung ist jede Versorgung, durch die ein vermeidbarer Schaden entsteht bzw. jede Versorgung mit Leistungen, deren Schaden oder Schadenspotential ihren (möglichen) Nutzen deutlich übersteigen.

Folgende Unterfälle lassen sich unterscheiden: Leistungen, die an sich zwar bedarfsgerecht sind, d.h. weder Über- noch Unterversorgung darstellen und effizient sind, aber in der Form ihrer Anwendung den anerkannten fachlichen Qualitätskriterien (§§ 106 und 135 - 137 SGB V) nicht entsprechen und daher vermeidbare Risiken bzw. Schäden implizieren.

Unterlassene, aber indizierte und an sich bedarfsgerechte Versorgungsleistungen lassen sich vom Ergebnis her auch als Fehlversorgung interpretieren, da entgangener Nutzen unnotwendigen Schaden bedeutet; Unterversorgung ist in diesem Sinne auch eine Fehlversorgung.
Ende Zitat.

Und was bedeutet das für uns?

Wenn wir eine Anwendung einsetzen wovon wir wissen, dass sie suboptimal ist, dann ist das eine Unterversorgung weil wir wissen (sollten), dass es eine Alternative gibt die besser ist. Es ist aber auch eine Fehlversorgung weil wir eine Anwendung benutzen die den anerkannten fachlichen Qualitätskriterien nicht entspricht. Anders formuliert: die erforderliche Beweislage ist nicht ausreichend. Ausserdem ist es womöglich eine Überversorgung weil die Anwendung aus Unwissenheit, Gefälligkeit (weil's so schön ist), zu Marketingzwecken oder aus Einkommensinteressen gewährt wird.
(Kursiv von mir)

Wenn wir also im ganz oben erwähnten Fall das machen was der Patient sich wünscht, diese angenehme aber weniger wirksame Behandlung, dann ist das nicht einfach falsch, es ist sogar drei mal falsch.

Das lassen wir erst mal sacken.

OK, also wenn ein Therapeut eine Behandlung durchführt, sollte er darüber informiert sein welche Anwendung am ehesten zum Erfolg führt, das ist ein sehr wichtiger Grundsatz der EBM.

Da Silva et al (2015) haben untersucht was Physiotherapeuten von der EBM halten. Wir gehen mal davon aus dass die Meinung von Ergotherapeuten nicht groß abweichen wird. Therapeuten haben eine positive Meinung zur EBM und sind der Meinung, dass es bezüglich ihres Wissens, ihrer Kompetenzen und ihres Verhaltens EBM gegenüber Optimierungspotential gäbe.
Hindernisse in diesem Zusammenhang sind

  • zu wenig Zeit
  • zu wenig Kenntnisse von Statistik
  • zu wenig Unterstützung vom Arbeitgeber
  • zu wenig Bezugsquellen und Hilfsmittel
  • zu wenig Interesse und
  • zu wenig Generalisierung der Untersuchungsergebnisse

Einige Autoren drücken die Einflüsse auf EBP in der Physiotherapie eher als Fazilitatoren denn als Barrieren aus. Zum Beispiel identifizierten Bridges et al (2007) mehrere persönliche Merkmale, die EBP erleichtern können:

  • selbständiges Lernen
  • nach-diplom Studium (Bachelor, Master, Kurse)
  • die Erkenntnis, dass Forschung (insbesondere in einem vor-verdauten Format wie z.B. klinische Leitlinien) in der täglichen klinischen Entscheidungsfindung eingesetzt werden kann, ohne die Produktivität und einen effizienten Patientenfluss zu beeinträchtigen
  • Nonkonformität, d.h. keine Angst davor zu haben, von der traditionellen oder üblichen Praxis abzuweichen, wenn neuere Forschungen effektivere Methoden aufzeigen.

Aha, da haben wir's: Nonkonformität ist gewünscht. Tataaaa.

Ich lasse das mal stehen in der Hoffnung, dass hier jemand vorbeischaut und ein Kommentar hinterlässt.

Tschö

Pieter


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