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Referenzen und Abbildungen finden sich im Buch


Ergotropes und trophotropes Tuning – Alarm- oder Orientierungsphase und Abwehr- oder Anpassungsphase.

Die Wahl, welches Schmerzhemmungssystem man mit TENS aktivieren möchte, hängt davon ab, wie die Aktivität des Nervensystems ausgerichtet ist. Befinden sich das vegetative Nervensystem, und damit der Patient, in der sog. Alarm- oder Orientierungsphase, ist das sympathische Nervensystem aktiviert und überwiegen ergotrope Funktionen.

Diese Funktionen sind auf Kampf und Flucht (fight or flight) ausgerichtet. Aufgrund der Aktivität des ARAS ist das Bewusstsein gesteigert, damit alle Information aufgenommen werden kann. Es tritt keine Inhibition von Afferenzen auf, weil jedes bisschen Information für das Überleben des Individuums von Bedeutung sein könnte.

ARAS (engl. Ascending Reticular Activating System) besteht aus einem System von Nervenfasern, die ihren Ursprung in der Formatio reticularis haben und über Verbindungen zum Thalamus und Cortex einen relativ unspezifischen aktivierenden Einfluss auf weite Teile des Neocortex ausüben und die Wirkungen auf das autonome Nervensystem und den Bewegungsapparat vermitteln. Das ARAS wird deshalb auch als unspezifisches sensorisches Subsystem bezeichnet.

Eine Erregung des ARAS bewirkt eine allgemeine Aktivierung des Organismus, ein sog. Arousal. Damit scheint es verantwortlich zu sein für den Übergang vom wachen Ruhezustand in den einer allgemeinen Aufmerksamkeit. Morphologisch ist das ARAS, wie die gesamte Formatio reticularis, nur schwer zu fassen. Zwar lassen sich biochemisch und morphologisch definierte Gebiete differenzieren, jedoch lassen sich keine spezifischen Funktionen der Kerne, sondern nur eine Zugehörigkeit zu bestimmten Systemen (z. B. Motorik) feststellen.

Ablauf der Stressreaktion

Der Ablauf ist wie folgt: Hat die Amygdala eine Situation als bedrohlich eingestuft, wird der gesamte Organismus blitzschnell in Alarmbereitschaft versetzt. Im vegetativen Nervensystem überwiegt in der Folge die Aktivierung des Sympathikus (ergotrope Ausrichtung) (sehr ausführlich und absolut empfehlenswert: Sapolsky 2004).

Es wird sofort Epinephrin (Adrenalin), Norepinephrin (Noradrenalin) und Dopamin (alle drei zusammen sind sog. Katecholamine) ausgeschüttet und ganz wenig später auch Corticotropin-releasing hormone (CRH. Veraltet: CR-Factor = CRF) aus dem Hypothalamus, welches die Hypophyse dazu veranlässt Adrenocorticotropes Hormon (ACTH, auch Corticotropin genannt) auszuschütten.

ACTH wird mit mehreren anderen Hormonen (LPH: lipotropes Hormon, MSH: Melanocyten stimulierendes Hormon) sowie β-Endorphin und Methionon-Enkephalin durch Proteolyse aus einem gemeinsamen Precursor (Vorläuferprotein), dem Proopiomelanocortin (vollständig: pro-opio-melano-cortico-tropin = POMC) gebildet. Das ACTH stimuliert die Nebennierenrinde zur Produktion von Glucocorticoiden, zum Beispiel das Cortisol, siehe auch Abb. 2.4. (Buch)

Die Glucocorticoide beeinflussen den Stoffwechsel und das Immunsystem. Cortisol erhöht den Blutspiegel metabolisierbarer Moleküle, also von Glucose, Aminosäuren, Fettsäuren und Glycerin, zur Bereitstellung von Energielieferanten. Der Organismus braucht ja Energie zur Flucht (oder zum Kampf, je nach persönlicher Einstellung).

Die Effekte von Adrenalin und Glucagon werden verstärkt und verlängert, es kommt zur Steigerung von Gluconeogenese und Glycogenabbau in der Leber, von Proteolyse und Lipolyse in der Peripherie. Cortisol sowie synthetische Glucocorticoide (z. B. Prednison, Dexamethason, Triamcinolon) unterdrücken die Immunantwort und Entzündungsprozesse. Das geschieht durch die Reduktion der Produktion von entzündungsauslösenden und erhaltenden Zytokinen, durch Verminderung der Zellmigration und insbesondere durch Hemmung der Synthese von Eicosanoiden (Entzündungsmediatoren wie Prostaglandine und Leukotrine). Cortisol wirkt auch auf das Bindegewebe, es hemmt die Kollagensynthese und Wundheilung und vermindert die Kalziumresorption.

Dies alles führt primär zu einer Aktivierung der zentralen Schmerzhemmung und zu u. a. folgenden Reaktionen:

• Erhöhte Aufmerksamkeit, erhöhte Verarbeitungsgeschwindigkeit des Gehirns bei gleichzeitiger Fixierung auf die schmerzauslösende Situation
• Empfindlichere Wahrnehmung (Pupillen weiten sich (Mydriasis durch Anspannung des M. dilatator pupillae), Seh- und Hörvermögen werden gesteigert)
• Erhöhte Muskelanspannung, erhöhte Reaktionsgeschwindigkeit
• Erhöhte Herzfrequenz, Zunahme der Kontraktionskraft, gesteigerter Blutdruck
• Flachere und schnellere Atmung, Erschlaffung der Tracheal- und Bronchialmuskulatur
• Vasokonstriktion der Haut- und Schleimhautgefäße (man wird blaß)
• Verminderte Speichelproduktion (trockener Mund)
• Verminderte Aktivität im Gastrointestinaltrakt, Sphinkterkontraktion oder -entspannung (sich vor Angst in die Hose machen)
• Energiebereitstellung in Muskeln und Nervenzellen: vermehrte Glykogenolyse und Glykoneogenese in der Leber, dazu eine Abnahme der Insulinproduktion
• Vermehrte Lipolyse in den Fettzellen

Die Erhöhung der Aktivität im Cortex hat u. a. folgende Auswirkungen:

• Sie legt die Grundlage für eine Erregungszunahme im Sinne eines Arousals.
• Sie verstärkt die Aufnahme und Weiterleitung sensorischer und motorischer Signale zum Cortex; zu diesem Zweck werden diverse Hemmungsmechanismen unterdrückt.

Diese sinnvollen Reaktionen klingen normalerweise nach Ende der bedrohlichen Situation relativ schnell wieder ab. Bei länger andauerndem Stress, wie er beim sog. modernen Menschen häufig vorkommt, führt die vermehrte Cortisol-Produktion über eine negative Rückkopplung zur Abnahme der ACTH-Produktion und somit zur Abnahme der β-Endorphin-Produktion: Die zentralen Schmerzhemmungsmechnismen funktionieren nicht oder ungenügend. Der Metabolismus bleibt katabol, die Herz-Kreislauf-Aktivität bleibt gesteigert, die Verdauungsaktivität nimmt ab. Es findet kein Gewebeaufbau (Wundheilung!) statt. Bei maximaler Verbrennung aller Reserven können verschiedenste körperliche und psychische Veränderungen auftreten (Sapolsky 2004).

Konsequenzen für die Therapie

In einer solchen fixierten ergotropen Situation ist die fast schmerzhafte, nicht gerade angenehme Stimulation von Aδ- und C-Fasern mit zentral wirkenden TENS-Formen sinnlos und wahrscheinlich sogar kontraproduktiv. Man bedenke, dass diese TENS-Formen eine gewisse Aggressivität vorweisen, weil man ebendiese Aδ- und C-Fasern reizt.

Der Patient (sein ZNS) kann nicht unterscheiden, ob diese Reize zum Guten oder zum Bösen angewendet werden. Im ARAS bleibt nämlich die Reiz-Spezifität nicht erhalten, sodass zwischen einzelnen Sinnesmodalitäten gar nicht unterschieden wird. Jede Art Reiz, der über Aδ- und C-Fasern nach zentral geleitet wird, kann als bedrohlich für den Organismus interpretiert werden und so den ergotropen Zustand erhalten oder gar verstärken.

Bei diesen Patienten kann man aber sehr wohl High TENS einsetzen, wobei es sinnvoll erscheint, die Dosierung schrittweise zu erhöhen, bis man die gewünschte Intensität „deutlich spürbar, aber gerade noch nicht schmerzhaft“ erreicht hat.

Erst wenn das ZNS in der sog. Anpassungs- oder Abwehrphase wieder selektiv funktioniert und trophotrop arbeitet (parasympathische Aktivität, ausgerichtet auf anabole Funktionen, also Erholung, Ruhe, Aufbau = Wundheilung, „rest and digest“), wird auch wieder nicht-relevante Information inhibiert. Das supraspinale Schmerzmodulationssystem kann aktiviert werden über Aδ- und C-Fasern, es werden Endomorphine und β-Endorphine produziert und die Übertragung von nozizeptorischen Afferenzen wird effektiver, längerfristig unterdrückt.

Eine ausführliche Anamnese, die auch Aspekte wie Familiensituation, Situation am Arbeitsplatz, Freizeitaktivitäten usw. umfassen soll, gibt erste Hinweise auf eine eventuelle psychosoziale Überbelastung. Es geht dabei um Themen wie Arbeitslosigkeit, Scheidung, Todesfall in der Familie, Bau eines Eigenheims u. v. m. und wie der Patient damit umgeht.

Diese Erkenntnisse sollte man unbedingt in der Wahl seiner Therapie mit einbeziehen. Zudem könnte hier eine mögliche Ursache dafür liegen, dass bestimmte Therapieformen manchmal funktionieren und manchmal eben nicht.

Für sehr ausführliche Information über den Einfluss von chronischem Stress auf den menschlichen Organismus sei das Buch Why zebras don’t get ulcers von Robert Sapolsky (Professor für Biologie und Neurologie an der Harvard Universität, USA) empfohlen.

Lassen Sie sich bitte nicht vom eigenartigen Titel täuschen! Der Mann ist ein solider Wissenschaftler und ein sehr guter Erzähler.